Nichts gehört der Vergangenheit an

8. Dezember 2023

Zum 75. Jahrestag der Charta der Menschenrechte

Der nachfolgende Beitrag gibt in wesentlichen Teilen einen – hier geringfügig überarbeiteten und ergänzten – Artikel zum 70. Jahrestag der der Charta der Menschenrechte wieder, geschrieben von Conrad Taler und veröffentlicht in der Ausgabe November/Dezember 2018 der antifa – Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur.

 
 

 Mit der am 10. Dezember 1948 von der UNO-Vollversammlung beschlossen „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ haben die Vereinten Nationen eine Resolution verfasst, die als Absichtserklärung die in ihr formulierten Menschenrechte in möglichst allen Staaten durchsetzen und schützen wollte und will.

Sie ist ein Meilenstein im Einsatz für die Menschenrechte. In 30 Artikeln werden bürgerliche, politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Rechte definiert. Sie gelten für jeden Menschen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit – einfach weil wir Menschen sind. 75 Jahre später ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte immer noch hochaktuell und in über 500 Sprachen übersetzt.

Sie enthält in der Tat aber zunächst einmal nur unverbindliche Empfehlungen. Und sie können nirgendwo eingeklagt werden. Dazu hätte der Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss fassen müssen. Das ist nicht geschehen. Aber: Sie bildet die Grundlage für weitere 70 Menschenrechtsverträge.

Anders verhält es sich mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die am 4. November 1950 von den Mitgliedsstaaten des Eurorates unterzeichnet worden ist. Sie deckt sich weitgehend mit der Menschenrechtscharta und erlangte am 7. August 1952 für die Bundesrepublik Deutschland Gesetzeskraft. Verankert sind die Menschenrechte auch in den ersten fünf Artikeln des Grundgesetzes.

Insofern leben wir rechtlich auf sicherem Grund, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Inzwischen wird die Charta der Menschenrechte, die ja auch dem Frieden dienen soll, zur Bemäntelung von Angriffskriegen benutzt. Stichwort: Humanitäre Intervention. Für die Fachwelt ist die Erklärung der Menschen- rechte eine direkte Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Verbrechen Hitlerdeutschlands. Das gilt übrigens auch für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch gilt das Grundgesetz in den Augen aller Bundesregierungen nicht als antifaschistisch.

In der Präambel der Charta heißt es, die grauenhaften Verbrechen des Naziregimes erfüllten „das Gewissen der Menschheit mit Empörung“. Alle Forderungen nach einem irgendwie gearteten Schlussstrich unter die Vergangenheit sind ein Affront gegenüber der gesamten zivilisierten Welt.

Den Grundstein für die Charta legte die von der UNO 1946 eingesetzte Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die im Jahr darauf unter Leitung von Eleanor Roosevelt ihre Tätigkeit aufnahm. Das Verhandlungsklima war bereits von dem Konflikt zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges geprägt, sodass am Ende ein schwierig ausgehandeltes Kompromiss stand, der unterschiedliche Auslegungen zulässt. Gleichwohl handelt es sich um ein Dokument von unschätzbarem Wert, dessen 30 Artikel im weltweiten Kampf um die Würde des Menschen als gemeinsame Orientierung gelten.

Noch immer sind die Menschen zu wenig vor willkürlicher Gewalt durch die Regierungen geschützt. Sie betrachten den Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte als Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihres Landes. Am augenfälligsten wird die Missachtung der Menschenrechte dort, wo Hunger die Menschen an einem lebenswerten Leben hindert und Frauen immer noch als Menschen zweiter Klasse behandelt werden.

Dass der Friedensnobelpreis 2023 einer Menschenrechtsaktivistin zuerkannt wurde, verdeutlicht die Bedeutung der Menschenrechte für ein friedliches Zusammenleben. Die 51‑jährige iranische Journalistin Narges Mohammadi gehört zu den bekanntesten Menschenrechtsaktivistinnen in ihrem Land und setzt sich insbesondere gegen die Unterdrückung von Frauen ein.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, auch der Nachkriegs- geschichte, verbietet sich eine Politik des erhobenen Zeigefingers. Mit den Berufsverboten hat die Bundesrepublik Deutschland tausendfach gegen die Menschenrechte verstoßen und wurde wegen ihrer Repressalien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Noch schlimmer erging es den Opfern des Naziregimes und den Kämpfern gegen den Faschismus, denen aus politischen Gründen Wiedergutmachungszahlungen und Entschädigungsrenten aberkannt wurden. Ähnliches gilt für den Rachefeldzug der westdeutschen Justiz gegen Richter und Staatsanwälte der DDR, bei dem nach dem Freispruch für die Nazijustiz grundlegende Rechtstaatsprinzipien über Bord gingen.

Wer nach den Gründen der Rechtsentwicklung in den neuen Bundesländern sucht, sollte über dieses Unrecht nicht hinwegsehen. Der hessische General- staatsanwalt Fritz Bauer hat nach den Erfahrungen der Nazizeit den Kampf um die Menschenrechte zu seinem Lebensthema gemacht. An seinem Frankfurter Amtssitz ließ er in ehernen Lettern den ersten Satz des Grundgesetzes anbringen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Von ihm selbst stammt der Satz: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ 75 Jahre nach Verabschiedung der Charta der Menschenrechte hat dieser Satz nichts von seiner Bedeutung verloren.