Der zweite Sonntag im September

1. September 2017

Als 1945 die Jahrestage der Ermordung Ernst Thälmanns, Rudolf Breitscheids und der Widerstandskämpfer des 20. Juli bevorstanden, ergriffen ehemalige politische Häftlinge die Initiative zur Begründung eines Gedenktages. Aus diesem Anlass wandte sich der Berliner »Hauptausschuss Opfer des Faschismus« am 3. August 1945 an den Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner. Der Berliner Magistrat nahm sich dieses Anliegens an und rief erstmals für
den 9. September 1945 zum »Tag der Opfer des Faschismus« auf. Es war DER ZWEITE SONNTAG IM SEPTEMBER. Eine Tradition war begründet, nach 1989 fortgeführt mit dem Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung.
Im Zentrum des Gedenkens standen damals die „ehemaligen politischen Häftlinge … die toten Helden des antifaschistischen Kampfes“, wie es im Aufruf zum 9. September hieß. Der zunächst scheinbar eingeengte Blick auf die Opfer des Faschismus weitete sich schnell. Mitte September 1945 wurden die jüdischen Opfer der Nürnberger Rassegesetzgebung in die Arbeit des OdF-Hauptausschusses einbezogen. Seit 1946 beteiligte sich die im Oktober gegründete Jüdische Gemeinde aktiv an dem Gedenken für die Opfer des Faschismus im Lustgarten.
Der heraufziehende Kalte Krieg sorgte dafür, dass sich der Blick auf die, die Opfer waren auf die, die Widerstand leisteten, wieder verengte.


Wir treffen uns am
Freitag, dem 8. September, 16.30 Uhr
zu unserem traditionellen kleinen
Gedenkmeeting am „Denkmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer“
am Weißensee.


Dieses Denkmal ist eine Aufforderung an uns: Denk mal. – Woran?
Ich denke natürlich an die Opfer.

In einer Pressemitteilung vom Bezirksausschuss für Opfer des Faschismus Weißensee vom 29. August 1945 werden Zahlen genannt:

„Aus dem Bezirk Weißensee waren neun Menschen von den Nationalsozialisten hingerichtet worden. Zwei waren im Gefängnis, 52 in Konzentrationslagern und vier in einem Zuchthaus gestorben. Drei waren von den Nationalsozialisten erschossen worden. 102 Einwohner hatten ein Konzentrationslager überlebt. 118 überlebten ein Zuchthaus und 92 ein Gefängnis.“

400 Menschen, die Widerstand geleistet hatten … Weißensee hatte 1939 90.000 Einwohner.

Ich denke an die Hoffnungen und Ziele der Überlebenden der Konzentrationslager, Zuchthäuser und Gefängnisse und daran, was aus diesen Hoffnungen und Zielen geworden ist, wie weit wir von ihnen noch immer entfernt sind.

„Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ – Das schworen die befreiten Häftlinge auf dem Ettersberg bei Weimar.

Der Frieden in der Welt war lange nicht so bedroht wie heute. Und die Friedensbewegung scheint schwach und gespalten. Auch in unserer Organisation wird darüber gestritten, wer die Schuld daran trägt und wer denn nun der rechte Friedensfreund sei, mit dem man gegen Militarisierung und Kriegstreiberei auf die Straße gehen dürfe und mit wem nicht. – Alte Feindbilder feiern fröhlich Urständ, auch in den Köpfen vermeintlich Linker. Neue Feindbilder werden konstruiert. – Deutsche Großmannssucht, wohin man schaut in der staatstragenden Politik. – Und welche Freiheit bleibt dem Einzelnen eigentlich in einem tiefen Überwachungsstaat?

Ich denke daran, dass dieser Schwur von Buchenwald heute benutzt wird, um Antifaschismus, Antifaschistinnen und Antifaschisten zu Verfassungsfeinden zu erklären.

Der Verfassungsschutz denunziert ihn als kommunistische Hervorbringung, und Kommunisten sind nun mal Verfassungsfeinde. Wer für Frieden und Freiheit eintritt, ist – nicht nur in seinen Augen – ein Feind des Grundgesetzes. Eine KPD konnte in diesem Land verboten werden, eine NPD nicht. Die Verfechter von Totalitarismus- und Extremismustheorien haben sich schon lange von der Gleichsetzung „Rot = Braun“ entfernt. Für sie ist Rot schlimmer als Braun.

Auch die AfD fühlt sich in dieser Welt zu Hause. Staatlich bezuschusste Gedenkstättenfahrten sind in ihren Augen Förderung des Linksextremismus. Und der Nationalsozialismus war ein Bollwerk gegen den Kommunismus, er hätte ihn nur nicht so totalitär bekämpfen dürfen.

Ich denke an den Ausschwitzüberlebenden Primo Levi, nach dem eine Schule hier in der Nähe benannt ist:

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben“.

Unsere Organisation, die VVN-BdA ist auf der Suche nach Wegen, die Erinnerung an die Jahre 1933-1945 wach zu halten und sie für die Gegenwart und Zukunft produktiv zu machen.

Dem dient die diesjährige Gestaltung des Tages der Mahnung und Erinnerung, eine antifaschistische Konferenz unter der Überschrift „Deutschland wiedergutgemacht? – Erinnerungskultur im Wandel und vor neuen Herausforderungen, die heute und morgen an der TU stattfindet.
Am Sonntag, der der zweite Sonntag im diesjährigen September ist, gibt es ein Frühstücksgespräch mit antifaschistischen Zeitzeug*innen, die traditionelle Kundgebung mit dem anschließenden Fahrradkorso mit Stopps an Orten von Widerstand und Verfolgung und gegen die AfD.

Ich denke auch an Bert Brecht, der eine Zeitlang hier in der Nähe wohnte – an seine Worte aus dem Jahr 1952, gerichtet an den Völkerkongress für den Frieden:

„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. […] Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht nass, sagen viele. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod.
Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.“

[ML, 08.09.2017]