Martin Riesenburger (1896-1965), der von der Mitte der 1930er Jahre an die Predigten an den Berliner Synagogen maßgeblich mitprägte und in den Jahren der Verfolgung als Seelsorger auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee wirkte, schrieb in seinen Erinnerungen, dass er „am 22. Mai [1945] einen jungen achtundzwanzigjährigen Soldaten mit Namen Michael Bodjana [beerdigte]. An einem Ehrenplatz auf unserem Friedhof erhebt sich ein Hügel über seinem Grab, und ein Denkstein kündet seinen Namen. Vielleicht weint in der Ferne eine treue Mutter um ihn.“
Michael Bodjan(a), dem Namen nach vermutlich aus Moldawien stammend, war am 30. April 1945 in das Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde aufgenommen worden, wo er am 13. Mai an „Kreislaufschwäche, Kopfschuß und Beinverletzung“ verstarb. Sein Grab ist noch heute auf dem Friedhof zu finden. Auch an ihn wollen junge Antifaschistinnen und Antifaschisten aus dem Nordosten Berlins im Rahmen ihrer –>„Liberationweeks 2022“ mit einer kleinen Gedenkveranstaltung am 22. April, 17 Uhr am Denkmal der antifaschistischen Widerstandskämpfer am Weißensee erinnern, 77 Jahre nach der Befreiung Weißensees von der faschistischen Diktatur. Wir sind eingeladen, dies mit ihnen gemeinsam zu tun.
Martin Riesenburger erinnerte sich, dass am 23. April 1945, „15.00 Uhr nachmittags … das Tor unseres Friedhofes der erste sowjetische Soldat [durchschritt]. Aufrecht und gerade war sein Gang. Ich hatte das Gefühl, daß er mit jedem Schritt bei seinem Kommen zu uns ein Stück des verruchten Hakenkreuzes zertrat. Wir umarmten diesen Boten der Freiheit, wir küßten ihn – und wir weinten!“
Die April- und Maitage des Jahres 1945 waren für viele Menschen Tage der Befreiung. Der 8. Mai „hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. … Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen“ (Bundespräsident Richard von Weizsäcker | Rede 8. Mai 1985). Es gibt keinen Grund, nicht an diese Tage zu erinnern und die Geschichte umzuschreiben. Das Jahr 2022 ist nicht das Jahr 1945. Das Russland von heute ist nicht die Sowjetunion von 1945. Die russische Armee der Gegenwart ist nicht die multinationale Rote Armee des Jahres 1945, in der Russen, Ukrainer, Belorussen, Kirgisen, Tadschiken, Usbeken, Kasachen, Turkmenen, Armenier, Aserbaidschaner, Moldauer – Soldaten aus 15 Volksgruppen – Seite an Seite in der sowjetischen Armee gegen Nazideutschland kämpften. Wohl aber sollten sie Anlass sein darüber nachzudenken, was Kriege, die ja nicht vom Himmel fallen, und ihre Vorbereitung mit uns, aus uns Menschen machen. Ja, es herrscht wieder Krieg in Europa, heißer Krieg, zum zweiten Mal nach 1945. Dabei sollte doch „Nie wieder Krieg“ sein. Und „Nie wieder Faschismus“. Worte, inflationär benutzt und dabei zunehmend ihres Inhalts beraubt, in ihr Gegenteil verkehrt. „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke“ (George Orwell, „1984“).